Philosophische
Praxis

Was ist Philosophische Praxis?

 

In der großen Landschaft des Nachdenkens über Lebenspraxis wird die Philosophische Praxis gerne als eine Spezialisierung auf das Allgemeine umschrieben. Durch diesen weiten, offenen Zugang ist sie besonders geeignet, der Eigenart des Einzelnen gerecht zu werden. Im Unterschied zur universitären Philosophie, die lehrt, welche Probleme den Studierenden zu interessieren haben, wird in der Philosophischen Praxis genau der umgekehrte Weg eingeschlagen. Der Gast kommt mit seinen Anliegen, seinem Problem, seinen Fragen zum Philosophischen Praktiker, um für seine Situation oder sein Problem Gehör zu finden. Die Philosophie ist hier somit nicht, wie in der Universität, die Belehrende, sondern vielmehr eine Dienerin, ganz im Sinne von Sokrates, der ja bekanntlich sein Philosophieren als eine „Hebammenkunst“ verstanden wissen wollte, eine Kunst, die Geburtshilfe zu leisten hat.      

 

Da hier Kürze geboten ist, möchte ich mich auf Fünf Merkmale Philosophischer Praxis beschränken, die vielen der bisherigen Gespräche, in meiner Philosophischen Praxis eigen waren. Mit diesen fünf Merkmalen erhebe ich keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der Gespräche, die ich mit meinen Gästen durch viele Jahre hindurch geführt habe. Die Fünf Merkmale Philosophischer Praxis, so wie ich sie verstehen möchte, sind im Einzelnen:

 

  1. Das Erlernen der Sprache – und damit der Welt – meines Gegenübers. Damit ist gemeint, dass ich mein Gegenüber nicht in das Korsett einer Theorie oder Weltanschauung nötige oder einer sich aus einer Theorie sich ableitenden, vorgefertigten praktischen Prozedur unterziehe. Dies ist vielleicht der Hauptunterschied zu Beratungs- oder Therapieformen, in welchen in der Regel von einer Theorie ausgegangen wird, um dann ein sich aus dieser Theorie herleitendes praktisches Verfahren auf jeden Einzelnen zu Beratenden anzuwenden. Ganz im Gegensatz dazu bin ich zunächst der rein Zuhörende und Staunende, der die Sprache des Anderen erlernt. Darin sehe ich die Grundhaltung des  Philosophischen Praktikers, dass er leer wird von sich selbst und seinen vorgefassten Meinungen und Theorien, dass er leer wird, damit der Andere, der Gast der Philosophischen Praxis, in seinem Selbstsein zur Geltung kommen kann. Dieses Leer-Sein oder Leer-Werden ist weniger eine Technik als vielmehr eine Haltung, die die Person in ihrer Einmaligkeit respektiert und würdigt. Diese Haltung wurde in der antiken griechischen Philosophie einst als epoché bezeichnet, von ep-echein, sich zurückhalten, sich des Urteils enthalten.

 

  1. Das Problem anschlussfähig machen. Sehr oft befindet sich der Besucher der Philosophischen Praxis mit seinem Problem oder Anliegen in einer Art Sackgasse oder Endlosschleife. Dies kann manchmal auch als Vereinsamung und Vereinzelung erfahren werden. Die Suche nach einem gangbaren Weg oder Ausweg wird oft erleichtert, wenn man zusieht, ob und wie dieses Problem oder diese Fragestellung in der Philosophie oder Wissenschaftsgeschichte schon einmal diskutiert, entwickelt oder beantwortet wurde. Durch diese Bezugnahme verlässt man die Sackgasse der Vereinsamung und findet gleichsam Anbindung an das öffentliche Wege- und Straßennetz. Das Problem wird anschlussfähig gemacht. Man teilt es jetzt mit anderen, die sich nun indirekt oder direkt ins Gespräch mit einbringen können. Dadurch wird die Fragestellung verfeinert und erhält mehr Gewicht, was in den meisten Fällen zu einem

 

  1. Upgrade der Fragestellung führt. Damit meine ich jenes Charakteristikum des Philosophischen Gesprächs: dass dieses im Verlauf der Zeit allmählich zu einer Verfeinerung oder qualitativen Verbesserung der Fragestellung herbeiführt. Dies war und ist auch der  Hauptbeitrag, mit dem die Philosophie und das Philosophieren die Welt bereichert hat und nach wie vor bereichert, nämlich die Problematisierung der Fragestellung selbst. Die Problematisierung erfordert im positiven Sinne ein geschichtliches Gespür, sowohl im biografischen wie auch im eigentlich geschichtlichen Sinne, sowie praktisch-dialektische Kenntnis. Probleme können so im Gespräch und gemeinsamen Nachdenken dialektisch weiterentwickelt werden. Hier hat die Philosophische Praxis eine augenscheinliche Nähe zum Entwicklungsroman und Film. Das ist auch eine Haltung, die ich vom Philosophischen Praktiker wünsche oder erwarte: dem Gast mit einer solchen Konzentration und einem so weit blickenden Denken, das auf vielen Ebenen ansprechbar ist, zuzuhören, wie dies auch die Lektüre eines großen Romans oder das Verständnis eines Films erfordert. Das Ziel ist es, den ganzen Roman oder den ganzen Film zu lesen, zu verstehen und die Entwicklung des Charakters darin zu erkennen. Nur dass im Fall der Philosophischen Praxis natürlich noch mehr menschlicher Einsatz gefordert ist, da es ja um einen tatsächlichen Menschen und das Glücken seines Lebens geht.   

 

  1. Die Bezugnahme auf etwas Drittes, welches das Gespräch bereichert und erweitert. – Was die Selbsterkenntnis sehr oft erschwert, ist die Gegebenheit, dass wir uns selbst zunächst und zumeist zu nahe stehen. Das ist ja einer der Hauptgründe, warum wir eine Philosophische Praktikerin oder einen Philosophischen Praktiker aufsuchen. Um uns selbst besser zu sehen und zu verstehen, ist es erforderlich, uns selbst zwischendurch immer wieder auch einmal aus der Distanz zu erleben und zu betrachten. Dies kann in dreifacher Hinsicht geschehen. Indem wir uns als geschichtlich gewordenes Wesen begreifen, dann, indem wir uns aus der Perspektive der Anderen sehen und erleben lernen, und drittens, dass wir auf etwas Bezug nehmen, welches uns oder unserer Problemlage ähnlich ist. Dieses Dritte kann z.B. ein Roman, eine Erzählung, ein Film, ein Bild, einer Komposition oder auch eine aktuelle oder vergangene wissenschaftliche Debatte sein. Die Bezugnahme auf dieses Dritte macht auch die geistige, seelische und ästhetische Faszination der Philosophischen Praxis aus.

 

  1. Optional: Übungen. Es ist nicht jederfraus / jedermanns Sache, regelmäßige geistige und körperliche Übungen zu machen. Die meisten Gäste finden ihr Genügen in den fortlaufenden Gesprächen. Daher ist dieses Charakteristikum meiner Philosophischen Praxis auch optional. Nietzsche hat im Zusammenhang mit der Bildung des Charakters in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen einmal von „regelmäßiger Selbsttätigkeit“ gesprochen, die erforderlich sei, um das eigene Leben zu kultivieren und zu entwickeln. Ich habe solche Übungen teils übernommen, teils selbst entwickelt. Damit knüpfe ich an die antike griechische und römische philosophische Praxis an. An die Tradition der Stoa etwa. Sie wurde auch durch die Übungen bekannt, durch die, wie der Philosophische Praktiker Gerd Achenbach dies gerne ausdrückt, „Lebenskönnerschaft“ kultiviert und auch erreicht werden kann.